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Der Fremde und der FischerStrebsamkeit und Lebensfreude "Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral". So heißt eine Kurzgeschichte von Heinrich Böll aus dem Jahr 1963. Diese Geschichte spielt – nach Auskunft des Verfassers – in einem sonnendurchfluteten Hafen an der westlichen Küste Europas. Es gibt nur zwei Personen: einen ärmlich gekleideten Fischer, der in seinem Boot schläft, und einen schick angezogenen Touristen, der gerade Fotos macht. Blauer Himmel, klick. Grünes Meer, klick. Rote Fischermütze, klick. Der Fischer wacht auf. Der Fremde ist der Landessprache mächtig. Er fragt den Fischer, warum er nicht seiner Arbeit nachgehe. Der Fischer antwortet, er sei schon heute morgen aufs Meer gefahren und habe so viele Fische gefangen, dass er sich für den Rest des Tages ausruhen könne. Der Fang würde sogar für morgen und übermorgen reichen. Der Fremde ist fassungslos. Er schlägt dem Fischer vor, er könne zwei-, drei- oder sogar viermal aufs Meer fahren. Aber nicht nur heute, sondern auch morgen und übermorgen. Und dann könne er sich nach einem Jahr einen Motor für sein Boot kaufen und nach zwei Jahren ein zweites Motorboot und schließlich eine ganze Flotte, die er von einem Hubschrauber aus steuern könne. "Und dann", sagt der Fremde, während sich seine Stimme überschlägt. "Was dann?", fragt der Fischer gelassen. "Dann", sagt der Fremde mit glühender Begeisterung, "dann könnten Sie beruhigt hier im Hafen sitzen, in der Sonne dösen und auf das herrliche Meer blicken". Darauf antwortet der Fischer: "Aber das tu ich ja schon jetzt". Diese Anekdote stammt aus einer Zeit, die in der heute zu Ende gehenden Landesausstellung "Wiederaufbau und Wirtschaftswunder" ausführlich dargestellt worden ist. Heinrich Böll beschreibt das damals weit verbreitete Klischee von den Franzosen, Spaniern und Italienern, die angeblich nicht arbeiten wollen, und den Deutschen, die angeblich nicht genießen können. Glücklicherweise lösen sich solche Vorurteile heute in einem immer mehr zusammenwachsenden Europa auf. Ich habe meinen diesjährigen Sommerurlaub in einer Region verbracht, die in der Mitte Europas liegt und lange ein Zankapfel zwischen den benachbarten Völkern war: In Südtirol vereinigen sich die von Böll beschriebenen Ideale Strebsamkeit und Lebensfreude. Und die Zweisprachigkeit wird immer weniger als Problem und immer mehr als Chance begriffen. Somit könnte Südtirol zu einem Vorbild für ganz Europa werden.
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