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Die gescheiterte BewerbungZwischen Anspruch und Wirklichkeit Der Dekan war verzweifelt. Drei Stunden lang hatte er mit den Kirchenvorstehern einer fränkischen Landgemeinde über die Neubesetzung der einzigen Pfarrstelle diskutiert. Der Landeskirchenrat hatte den üblichen Dreiervorschlag präsentiert. Doch keiner der drei Kandidaten war den Kirchenvorstehern gut genug. Der eine war ihnen zu fromm, der andere zu liberal und der dritte zu profillos. Dann beschrieben sie ihren Wunschkandidaten: Jung sollte er sein, aber zugleich auch erfahren. Durchsetzungskräftig, aber auch kompromissbereit. Selbstbewusst, aber nicht überheblich. Der Dekan wartete einen Augenblick und zog dann – zur allgemeinen Überraschung – noch eine vierte Bewerbung aus der Tasche. "Der vierte Kandidat ist fast 60 Jahre alt", erklärte der Dekan. "Er ist unverheiratet und arbeitet gerne nachts". Seinen jugendlichen Fanatismus habe er glücklicherweise abgelegt. Trotzdem komme es häufig zum Streit mit Kollegen oder Kirchenvorstehern. In keiner Gemeinde sei er länger als drei Jahre geblieben. "Es fällt ihm nicht schwer, andere Meinungen gelten zu lassen", sagte der Dekan, "solange sie seiner eigenen Meinung nicht widersprechen". Er habe ein starkes Sendungsbewusstsein und glaube sogar, das Christentum erfunden zu haben. Er sei selten zuhause und missioniere stattdessen unter Touristen in Griechenland, Italien und Spanien. Sogar in der Türkei habe er schon gepredigt, was bei den dortigen Behörden aber nicht so gut angekommen sei. "Seine Predigten sind so lang, dass die Zuhörer manchmal einschlafen", meinte der Dekan. "Er lässt Frauen nicht gerne zu Wort kommen, jedenfalls nicht im Gottesdienst". Schon mehrmals sei er mit dem Gesetz in Konflikt gekommen und habe einige Jahre seines Lebens im Gefängnis verbracht. Nun sei er auf Kaution wieder frei und suche eine neue berufliche Herausforderung. Er sei zwar gesundheitlich stark angeschlagen, hoffe aber, dass Gott ihm die nötige Kraft für seinen Dienst geben werde. Der Dekan schloss mit der Bitte, dem vierten Bewerber eine Chance zu geben. "Ausgeschlossen", riefen die Kirchenvorsteher. Da lächelte der Dekan und sagte: "Ich gratuliere Ihnen. Sie haben soeben den Apostel Paulus abgelehnt!".
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