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Michel hat ADSDer missverstandene Junge Als ich ein kleiner Junge war, verbrachte ich die Sommerferien nicht selten bei meinen Großeltern. Der Schluss- und Höhepunkt eines jeden Ferientages war eine Gute-Nacht-Geschichte, die von meiner Großmutter auf der Bettkante vorgetragen wurde. So hörte ich jeden Abend eine spannende Episode von Astrid Lindgrens Kinderbuch "Michel aus Lönneberga". Michel Svensson, der im schwedischen Original "Emil" heißt, lebt am Anfang des 20. Jahrhunderts mit seiner Familie auf einen Hof namens Katthult. Dieser Hof befindet sich am Rande des Dorfes Lönneberga in der südschwedischen Provinz Småland. Zur Familie gehören – außer Michel - der Vater Anton, die Mutter Alma, die Schwester Klein-Ida sowie – im weiteren Sinne – der Knecht Alfred und die Magd Lina. Michel ist ein quirliger Blondschopf, der ständig irgendwelchen Unsinn anstellt. Dafür wird er – entgegen der damaligen Praxis – von seinem Vater nicht geprügelt, sondern nur in einen Tischlerschuppen gesperrt, wo er bei jedem Aufenthalt ein kleines Holzmännchen schnitzt. So entsteht im Laufe der Zeit eine beachtliche Sammlung an Männchen. Heute erkenne ich, warum mich dieses Buch als Kind so fasziniert hat: Astrid Lindgren entwickelt die Spannung aus dem Verhältnis von Michel zu seinem Vater. Während der Vater auf jeden Streich mit der gleichen Empörung reagiert und die gleiche Sanktion verhängt, entwirft sich der Sohn in jedem Kapitel neu. Michel kann sowohl eine destruktive als auch eine konstruktive Rolle einnehmen. Er ist nicht nur Lausbub, der auf Stelzen durchs Fenster fällt und mit dem Kopf in der Blaubeersuppe landet, sondern auch der Gastgeber, der die Armen des Dorfes zu einem Festmahl einlädt, und der Lebensretter, der den schwerkranken Alfred im Schneesturm mit einem Pferdeschlitten zum Arzt bringt. Wie gut, dass Michel nicht am Anfang des 21. Jahrhunderts lebt. Seine Eltern würden ihn schon nach dem ersten Streich zu einem Therapeuten schicken. Der Michel von heute sitzt nicht mehr im Tischlerschuppen, sondern in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Er schnitzt keine Holzmännchen mehr, sondern macht Ergotherapie. Und statt Blaubeersuppe gibt es Ritalin. Denn Michel hat ADS.
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