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Die drei MessenMit allen Sinnen genießen Ein Priester soll am Heiligen Abend in der Kapelle eines Schlosses drei Messen lesen. Und weil er nicht verheiratet ist, hat ihn der Schlossherr zum anschließenden Festessen eingeladen. Während der Priester in der Sakristei sein Messgewand anzieht, erzählt ihm der Messdiener von all den Köstlichkeiten, die gerade in der Schlossküche zubereitet werden, vor allem von dem mit Trüffeln gefüllten Truthahn. Der Messdiener läutet mit der Glocke. Die erste Messe beginnt. Der Priester singt zunächst das Kyrie, dann das Gloria, das Credo, das Sanctus und zuletzt das Agnus Dei. Der Priester singt und denkt dabei nur an eins: an den mit Trüffeln gefüllten Truthahn. Nach einer Stunde kommt er zum Amen. Die Glocke ertönt. Die zweite Messe beginnt. Der Priester eilt in die Kirche. Und diesmal erscheint es ihm so, als wolle die Glocke ihm zurufen: "Je schneller du liest, desto eher bist du bei Tisch". Er verschluckt die Silben und überspringt die Seiten und sagt bereits nach einer halben Stunde "Amen". Und wieder ertönt die Glocke. Die dritte Messe beginnt. Der Priester stürzt in die Kirche. Er singt ein paar unverständliche Verse, macht dazu ein paar flüchtige Gesten und spricht schon nach zehn Minuten das Amen. Während die Gemeinde voller Bestürzung zurückbleibt, eilt der Priester zum festlich gedeckten Tisch. Er isst und trinkt, soviel er kann. Doch er zahlt einen hohen Preis. Denn er stirbt noch in derselben Nacht und muss sich vor dem Herrn der Kirche verantworten. Der Herr verurteilt ihn dazu, hundert Jahre lang jeweils am Heiligen Abend in die Schlosskapelle zurückzukehren und jeweils drei Messen zu lesen. Diese Geschichte stammt von dem französischen Schriftsteller Alphonse Daudet (1840-1897). Sie handelt von einem Mann, der auf Ehe und Familie verzichten muss und seinen Lebenshunger dafür am Essen stillt. Die Messe ist für Alphonse Daudet nicht mehr als eine langweilige Pflichtübung vor der eigentlichen Weihnachtsfeier. Für mich beginnt der Genuss am Heiligen Abend nicht erst nach der Messe, sondern bereits in der Messe. Ich kann Lichter sehen, Musik hören, Kerzen riechen, Wachs fühlen, Brot und Wein schmecken. Ich genieße jede Messe mit allen Sinnen. Kein Zweifel: Ich würde gerne noch dreihundert Messen lesen.
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