Die ungleichen Schwestern

Kanone und Glocke

Der Turm der Neubaukirche ist mit einer Höhe von 91 Metern der höchste Kirchturm von Würzburg. Wie ein großer Finger, der nach oben zeigt, erinnert dieser Turm an die Zerstörung der Stadt am 16. März 1945 und ihren mehr als sechs Jahrzehnte dauernden Wiederaufbau. Als ich im Alter von fünf Jahren zum ersten Mal nach Würzburg kam, hatte der Turm der Neubaukirche noch keine Kappe. An diesen Anblick kann ich mich noch gut erinnern. Der kuppelförmige Turmhelm wurde erst im Jahr 1977 wieder erneuert. Daran schloss sich die Restaurierung der von Julius Echter gebauten Neubaukirche an, die 1985 ihrer neuen Bestimmung als Festsaal der Universität übergeben wurde.

Im Jahr 2005 wurde im Turm der Neubaukirche ein Glockenspiel oder Carillon installiert. Das Würzburger Carillon ist eines von zur Zeit 41 deutschen bzw. 4 bayerischen Glockenspielen. Es ist das einzige, das sich im Besitz einer deutschen Universität befindet. Das Carillon der Neubaukirche stammt aus der holländischen Gießerei Petit en Fritsen und besteht aus 51 Glocken, die über Drähte und Hebel mit einem Spieltisch, dem sog. Stokkenklavier, verbunden sind. Da sich der Spieltisch ebenfalls in luftiger Höhe befindet, wird das Carillon nur im Sommerhalbjahr gespielt - und zwar an jedem Mittwoch ab 17.30 Uhr durch den einzigen Würzburger Carilloneur Dr. Jürgen Buchner. Der promovierte Theologe hat ein breites Repertoire, das von originalen Carillon-Kompositionen über Kirchenchoräle bis hin zu Volksliedern reicht.

Wenn er mit seinen Fäusten das Stokkenklavier bearbeitet, fange ich manchmal an zu träumen. Ich träume davon, dass der Klang der Glocken eines Tages den Donner der Kanonen übertönen wird, so wie es Christian Morgenstern (1871-1914) in seinem Gedicht "Die Schwestern" beschrieben hat:

Die Kanone sprach zur Glocke: / "Immer locke, immer locke! / Hast dein Reich, wo ich es habe, / hart am Leben, hart am Grabe. / Strebst umsonst, mein Reich zu schmälern, / bist du ehern, bin ich stählern. / Heute sind sie dein und beten, / morgen sind sie mein und töten. / Klingt mein Ruf auch unwillkommen, / keiner fehlt von deinen Frommen. / Beste, statt uns zu verlästern, / lass uns einig sein wie Schwestern". /

Drauf der Glocke dumpfe Kehle: / "Ausgeburt der Teufelsseele, / wird mich erst der Rechte läuten, / wird es deinen Tod bedeuten".


 

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