Es ist Herbst

Die unverhoffte Ernte

"Herr, es ist Zeit". Mit diesen Worten beginnt das Gedicht "Herbsttag" von Rainer Maria Rilke (1875-1926). Was mag der Dichter damit gemeint haben?

"Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß. Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren und auf den Fluren lass die Winde los".
Herr, es ist Zeit. Mein Studium war sehr lang. Leg deinen Schatten auf die Examensuhren und in den Unifluren lass die Prüfungsängste los.
Herr, es ist Zeit. Meine Arbeit war sehr hart. Leg deinen Schatten auf die Stechuhren und auf den Bürofluren lass den Ärger mit Kollegen los.
Herr, es ist Zeit. Meine Freizeit war sehr kurz. Leg deinen Schatten auf die Stoppuhren und auf den Wiesenfluren lass den Schäferhund los.
Herr, es ist Zeit. Mein Ruhestand ist sehr ruhig. Leg deinen Schatten auf die Standuhren und in den Hausfluren lass die Enkelkinder los.
Herr, es ist Zeit. Meine Liebe ist nicht groß. Leg deinen Schatten auf die Eieruhren und auf den Ehefluren lass die Frühlingwinde wieder los.
Herr, es ist Zeit. Mein Glaube ist sehr klein. Leg deinen Schatten auf die Kirchturmuhren und in den Seelenfluren lass die Zweifel los.

Herr, es ist Herbst. Mein Sommer war zu kurz. Ich habe nicht erreicht, was ich mir im Frühling vorgenommen hatte. Ich habe ein Leben lang gearbeitet und doch versäumt, mir ein Haus zu bauen, in dem ich im Alter wohnen kann.
Doch als ich dachte, ich sei gescheitert, bin ich dir begegnet. Du hast mir gezeigt, dass mein Leben doch gelungen ist. Denn meine Saat, mit Bangen ausgesät, geht auf und wird unverhofft zur Ernte. Herr, es ist Herbst.


 

 

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