Der Schatten des Vaters

Eine Entdeckung auf dem Dachboden

"Der Schatten des Vaters". Dieses moderne Gleichnis handelt von einem kleinen Jungen, der im Haus seiner Eltern aufwächst. Er bewundert seinen Vater und möchte so sein wie er. Aber er erkennt im Laufe der Zeit, dass er dieses Ziel nie erreichen wird, weil dem Vater etwas fehlt, was jeder andere Mensch hat: Der Vater hat keinen Schatten.

Eines Tages fasst sich der Junge ein Herz und fragt seine Mutter: "Warum hat Papa keinen Schatten?". Die Mutter antwortet empört: "Dein Vater ist ein liebevoller Ehemann und ein treusorgender Familienvater. Nimm dir ein Beispiel an ihm!". Da wird der Junge traurig und sagt zu seinem Vater: "Ich bin noch so klein und habe schon einen so großen Schatten. Und du bist so groß und hast nicht einmal einen kleinen".

Nach einiger Zeit wird der Vater krank und stirbt. Der Junge wächst heran und wird zu einem jungen Mann. Eines Tages findet er beim Aufräumen auf dem Dachboden eine alte, völlig verstaubte Kiste, die er noch nie gesehen hat. Er öffnet die Kiste und findet darin, ordentlich zusammengelegt und fest verschnürt, den Schatten des Vaters. Der junge Mann befreit den Schatten von seinen Fesseln. Der Schatten steigt aus der Kiste und weint bitterlich. Dann läuft der Schatten, so schnell er kann, zum Grab des Vaters. Soweit das Gleichnis.

Ich weiß nicht, was der Sohn auf dem Dachboden wirklich gefunden hat. Vielleicht war es ein Tagebuch des Vaters, vielleicht das Bild von einer anderen Frau oder ein Parteiabzeichen. Ich weiß nur, dass er in der Kiste etwas gefunden hat, was ihm die Augen geöffnet hat, was ihm eine dunkle, bisher unbekannte Seite des Vaters gezeigt hat.

Der Sohn ist betroffen und erleichtert zugleich. Denn er weiß nun, dass sein Vater ein Mensch war, so wie er einer ist. Er erkennt: Ein Mensch kann nur dann fröhlich leben und getrost sterben, wenn er sich zuvor mit seinem Schatten versöhnt hat.


 

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