Wenn ich gehe, dann gehe ich

Vom Leben in der Gegenwart

Ein Vater bekam Besuch von seinem Sohn. Während der Sohn gehetzt und abgespannt wirkte, saß der Vater gemütlich vor seinem Haus und genoss das Sonnenlicht.

Da fragte der Sohn: "Vater, wie schaffst du es, immer so ruhig und ausgeglichen zu sein?". Da sagte der Vater: "Ganz einfach: Wenn ich schlafe, dann schlafe ich. Wenn ich aufstehe, dann stehe ich auf. Wenn ich esse, dann esse ich. Wenn ich gehe, dann gehe ich. Wenn ich arbeite, dann arbeite ich. Wenn ich ruhe, dann ruhe ich".

"Aber das mache ich doch auch!", erwiderte der Sohn. Der Vater sah ihn prüfend an und sagte dann: "Nein, du machst es anders: Wenn du schläfst, denkst du schon ans Aufstehen. Wenn du aufstehst, denkst du schon ans Essen. Wenn du isst, denkst du schon ans Gehen. Wenn du gehst, denkst du schon ans Arbeiten. Wenn du arbeitest, denkst du schon ans Ruhen. Wenn du ruhst, denkst du schon ans Schlafen".

Diese alte Geschichte aus China erscheint mir wie ein Schlüssel zum Verständnis des modernen Menschen, der von Termin zu Termin hetzt, ohne irgendwo gegenwärtig zu sein.

Der moderne Mensch lebt einerseits in der Vergangenheit. Er hadert mit seiner eigenen Geschichte und trauert seinen verpassten Chancen nach. Er überlegt sich, wie sein Leben verlaufen wäre, wenn er einen anderen Beruf erlernt oder einen anderen Partner gefunden hätte.

Der moderne Mensch lebt andererseits in der Zukunft. Er träumt davon, was er am Feierabend, am Wochenende oder im nächsten Urlaub machen will. Er überlegt sich, wie er sein Leben nach dem Hausbau, der Kindererziehung und der Pensionierung gestalten könnte.

Das alles sind – auch wenn es hart klingt – Lebenslügen. Denn der Mensch hat gar nicht die Möglichkeit, in der Vergangenheit oder in der Zukunft zu leben. Die einzige Zeit, die der Mensch nach dem Willen Gottes gestalten kann und soll, ist die Gegenwart.

Nur wer im Hier und Jetzt lebt, kann glücklich und zufrieden sein. Darum lasse ich gerne am Anfang eines Gottesdienstes das folgende Lied von Gerhard Tersteegen (1697-1769) singen: "Gott ist gegenwärtig". Und ich frage mich dabei jedes Mal: "Bin ich es auch?".


 

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