Der Wolf von Gubbio

Ein Vertrag sichert den Frieden

Der heilige Franz wanderte einst von seiner Heimatstadt Assisi zu der kleinen Nachbarstadt Gubbio. Da wunderte er sich, denn das große Tor zur Stadt war verschlossen, obwohl die Sonne noch hoch am Himmel stand. Er klopfte an das Tor - doch vergeblich. Er klopfte noch einmal - keiner öffnete ihm. Er klopfte ein drittes Mal - da ging eine kleine Luke auf und das Gesicht des Wächters erschien.

"Was soll das bedeuten?", fragte Franz von Assisi. "Warum ist das Tor geschlossen?". Da sagte der Wächter: "Wir haben Angst. Denn hier in der Gegend treibt ein Wolf sein Unwesen. Er ist groß und schrecklich. Er hat schon viele Schafe gerissen und sogar schon einige Menschen angefallen. Wir wissen nicht, wie wir ihn besiegen können. Darum haben wir das Stadttor geschlossen".

Da drehte sich Franz um. Er ging von der Stadt direkt auf den nahegelegenen Wald zu. Der Wächter wollte ihn noch warnen, wollte sagen, dass das viel zu gefährlich sei. Doch zu spät - der Heilige ging los. Ohne Furcht, ohne Hast, ohne Taktik. Schritt für Schritt.

Und da geschah es: Der Wolf trat aus dem Wald und schritt ihm entgegen. Die Bewohner von Gubbio standen auf der Stadtmauer und hielten den Atem an. Der heilige Franz und der Wolf trafen sich in der Mitte. Der Wolf riss sein Maul auf und zeigte seine Zähne.

Da erhob Franz seine rechte Hand und streckte sie dem Wolf entgegen. Dann sagte er: "Lieber Bruder Wolf". Der Wolf hob seine rechte Pfote und legte sie in die Hand des Heiligen. Dann gingen die beiden in den Wald. Nach einer Weile kamen sie wieder. Und der Wolf folgte dem heiligen Franz wie ein unschuldiges Lamm.

Als die beiden vor dem Stadttor standen, rief Franz: "Ihr Bürger von Gubbio, ich will einen Vertrag schließen zwischen Euch und dem Wolf. Er wird Euch kein Leid mehr zufügen. Und Ihr werdet ihm alles geben, was er zum Leben braucht".

Diese mittelalterliche Legende enthält – aus meiner Sicht - den Schlüssel zur Lösung eines aktuellen Problems, das zuletzt beim Gipfeltreffen in Heiligendamm zu Tage getreten ist: Ein friedliches Zusammenleben der Völker ist nur möglich, wenn die Reichen sich auf einen Vertrag einlassen, der das Existenzrecht der Armen sichert. Was der internationalen Politik mehr denn je fehlt, ist ein moderner "Franz von Assisi".


 

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