Die Mär von der rein deutschen Weihnacht

Wie wir uns selbst belügen

Es war einmal am frühen Morgen des Heiligen Abends in einer kleinen Stadt irgendwo in Deutschland. Es war kalt sogar frostig, aber die Luft war klar. Da kamen ein paar finstere Gestalten auf den Marktplatz. Sie trugen schwarze Jacken und hatten ihre Mützen tief ins Gesicht gezogen. Sie blieben vor der Kirche stehen und sprühten auf die Außenwand Parolen wie „Ausländer raus“, „Deutschland den Deutschen“ und „Wir fordern eine deutsche Weihnacht“. Schon nach fünf Minuten waren sie wieder verschwunden. Gespenstische Ruhe lag auf dem Marktplatz. An den Bürgerhäusern hatten sich einige Gardinen bewegt. Aber niemand hatte etwas gesehen.

Langsam wich die Dämmerung. Und die Sonne ging auf. Ein Gemurmel breitete sich aus in der Stadt. Die Ausländer flüsterten untereinander. „Hast du schon gesehen, was an der Kirche steht?“. „Die wollen uns hier nicht mehr. Komm, lass uns gehen!“. „Wohin sollen wir denn gehen? Hier ist unser Zuhause!“.

Der erste, der ging, war Gott. Genauer gesagt: Karel Gott, die goldene Stimme aus Prag. Karel Gott kehrte in seine tschechische Heimat zurück und nahm die Biene Maja gleich mit. Der zweite war Hansi Hinterseer. Er sprach zwar Deutsch, hatte aber leider nur ein österreichischen Pass. Beatrice Egli ging in die Schweiz zurück und Mireille Mathieu nach Frankreich. Helene Fischer nannte sich wieder Elena Petrowna und kehrte nach Krasnojarsk zurück.

Einige in Deutschland sehr beliebte Filmfiguren schlossen sich an. Aschenbrödel packte ihre drei Haselnüsse ein und ging nach Tschechien zurück. Und Sissi zog zu ihrem geliebten Franzl nach Österreich. Der kleine Lord ging mit dem Geizhals Scrooge und den drei Geistern der Weihnacht nach England. Nur Kevin, der blieb allein zu Haus. Doch er hatte Sehnsucht nach seiner Familie. Darum flog er nach Amerika. Aber das half ihm auch nicht weiter. Denn nun war allein in New York. Aber dann erlebte er das Wunder von Manhattan und fuhr mit dem Polarexpress bis zum Nordpol.

Auch der Nikolaus sah für sich keine Zukunft in Deutschland mehr. Denn er war ja Bischof von Myra und das liegt leider in der heutigen Türkei. Auch Santa Claus hielt es auch nicht mehr lange aus. Er spannte das Rentier Rudolph vor seinen Schlitten und fuhr über Skandinavien und Grönland zurück nach Amerika. Ein Gleiches tat der Nussknacker von Peter Tschaikowski. Er kehrte in seine Heimat Russland zurück und nahm seine Gefährtin, die Zuckerfee, gleich mit.

Nicht viel anders erging es dem aktuellen Nürnberger Christkind Benigna Munsi. Sie ist zwar im Nürnberg geboren, hat die deutsche Staatsbürgerschaft und ist eine praktizierende Katholikin. Aber das nützt ihr leider nichts. Denn ihr Vater stammt aus Indien. Darum hieß es: Ab nach Bangalore.

Auch die ausländischen Tiere hielten es nicht mehr in Deutschland aus. Die Weihnachtsgänse flogen in einem großen Schwarm zurück nach Polen. Die Esel kehrten nach Griechenland zurück, die Ochsen nach Argentinien und die Schafe nach Neuseeland.

Es folgten die Pflanzen. Die Nordmanntanne ist zwar der Deutschen liebster Weihnachtsbaum, weil er am wenigsten nadelt. Aber das ist plötzlich egal. Denn was jetzt zählt, ist Herkunft nicht Qualität. Darum wanderten alle Nordmanntannen zurück in ihre Heimat, den Kaukasus, und die Weihnachtssterne nach Mexiko.

„Hilfe, ich bin ein Mischling“, rief der Dresdner Christstollen entsetzt und löste sich in seine Bestandteile auf. Es folgten die Aachener Printen, das Lückecker Marzipan und die Nürnberger Lebkuchen. Vanillekipferl und Zimtsterne schlossen sich an. Die Vanille kehrte zurück nach Mexiko, der Zimt nach Indien. Die Nüsse kehrten in die Türkei zurück, die Mandeln nach Kalifornien. Der Kakao in die Elfenbeinküste und der Kaffee, das Lieblingsgetränk der Deutschen, nach Äthiopien.

Dann kam der Exodus der Lieder. „Stille Nacht“ durfte nicht mehr gesungen werden. Denn dieses Lied stammt ja bekanntlich aus Österreich. Und „O du fröhliche“ durfte auch nicht bleiben, denn die Melodie ist eine sizilianische Volksweise. Fremdsprachige Lieder waren bei der rein deutschen Weihnacht ohnehin tabu. Also nichts mehr mit „Jingle Bells“, „Last Christmas“ und „Feliz Navidad“.

Nach einigen Stunden war der Spuk vorbei, der Auszug geschafft, gerade noch rechtzeitig vor dem deutschen Weihnachtsfest. Nichts Ausländisches war mehr im Land. Nur eines wollte nicht so recht ins Bild passen: das Kind in der Krippe sowie Maria und Josef. Ausgerechnet drei Juden! „Wir bleiben!“, hatte Maria gesagt, „Deutschland ist ein freies Land. Und alle Menschen sind gleich, egal woher sie kommen. Ich glaube dass am Ende die Menschlichkeit siegt und die Vernunft“. Josef überlegte einen Moment. Dann sagte er: „Du hast Recht, Maria! Solange es uns Juden in Deutschland gibt, ist Deutschland nicht verloren“.

Niko Natzschka

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