Die unwürdige Greisin

Nächstenliebe und Selbstliebe

Das Doppelgebot der Liebe gehört zu den zentralen Aussagen der Bibel und zu den Hauptinhalten des christlichen Glaubens. Im Neuen Testament wird Jesus von einem Schriftgelehrten nach dem höchsten Gebot gefragt (Matthäus 22,34-40). Jesus antwortet mit zwei Zitaten aus dem Alten Testament: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt" (5. Mose 6,5) und "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst" (3. Mose 19,18).

Bei genauer Betrachtung erweist sich dieses Doppelgebot jedoch als Dreiergebot: Du sollst 1. Gott lieben, 2. deinen Nächsten und 3. dich selbst. Die Liebe des Menschen zu sich selbst wird in den meisten Auslegungen wenig oder gar nicht berücksichtigt, doch sie ist ein wichtiger, vielleicht sogar entscheidender Bestandteil dieses Gebotes. Denn alle drei Teile gehören zusammen: Nur wer sich selbst liebt, kann auch seinen Nächsten lieben. Nur wer liebevoll mit dem Nächsten umgeht, kann auch seine Liebe zu Gott glaubwürdig bezeugen.

Von der Liebe des Menschen zu sich selbst handelt eine Kurzgeschichte des deutschen Dramatikers Bert Brecht (1898-1956). Diese Geschichte trägt den Titel "Die unwürdige Greisin" und stammt aus dem Jahr 1939. Bert Brecht erzählt in Ich-Form - also aus der Sicht des Enkels - von seiner Großmutter. Die Großmutter lebte in einer badischen Kleinstadt und war 72 Jahre alt, als ihr Mann, der Inhaber einer kleinen Druckerei, starb. Sie hatte fünf Jahrzehnte nur für ihre Familie gelebt und sich selbst nie etwas gegönnt. Die fünf Kinder wurden erwachsen, vier von ihnen zogen weg. Nur der jüngste Sohn blieb am Ort, er wurde ebenfalls Buchdrucker und gründete eine eigene Familie.

Dann stirbt der Vater. Die Mutter wohnt von da an allein in einem großen Haus. Der jüngste Sohn, der nur eine kleine Wohnung hat, hofft, schon bald einziehen zu können. Doch diese Erwartung erfüllt sich nicht. Nur einmal in der Woche, am Sonntag, lädt die Mutter seine Familie zum Essen ein.

Ansonsten beginnt sie, ihr eigenes Leben zu führen. Sie geht zum ersten Mal in ihrem Leben ins Kino. Sie bestellt sich eine Droschke, um nicht laufen zu müssen. Sie geht ins Gasthaus zum Essen - und das nicht nur einmal, sondern an jedem zweiten Tag. Der jüngste Sohn erregt sich in Briefen an seine Geschwister über die angebliche Geldverschwendung und nennt seine Mutter eine "unwürdige Greisin".

Schließlich lernt die Mutter in dem Gasthaus, in dem sie jeden zweiten Tag speist, eine behinderte Küchenhilfe kennen. Sie freundet sich mit der jungen Frau an und schenkt ihr einen bunten Hut. "Sie hat dem Krüppel jetzt einen Hut gekauft mit Rosen drauf", schreibt der Buchdrucker verzweifelt, "und unsere Anna hat kein Kommunionskleid".

Die Geschichte endet plötzlich und unerwartet. Die Mutter stirbt in den Armen ihrer behinderten Freundin im Alter von nur 74 Jahren. Bert Brecht schließt mit den Worten: "Sie hatte die langen Jahre der Knechtschaft und die kurzen Jahre der Freiheit ausgekostet und das Brot des Lebens aufgezehrt bis auf den letzten Brosamen".

Was mir diese Geschichte sagt? Nicht nur das Geld, das ich für andere Menschen ausgebe, ist von Gott gesegnet, sondern auch das Geld, das ich für mich selbst ausgebe. Denn die Liebe zum Nächsten und die Liebe zu mir selbst schließen sich nicht aus, sondern sie bedingen sich gegenseitig. Nach christlichem Verständnis darf und soll ich mir selbst Gutes tun - so wie es schon die spanische Ordensfrau Teresa von Ávila (1515-1582) formuliert hat: "Tue deinem Körper Gutes, damit deine Seele Lust hat, darin zu wohnen".

Niko Natzschka

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