Das Selfie

Weihnachten. Klick

Als ich ein kleiner Junge war, bekam ich von meinen Eltern am Heiligen Abend meine erste Kamera geschenkt. Ich fotografierte zunächst meine Eltern. Klick. Dann den Christbaum. Klick. Dann die Weihnachtskrippe. Klick. Dann meinen Bruder mit den Geschenken. Klick. Und schließlich meine Schwester am Klavier. Klick.

Als ich Pfarrer der Martin-Luther-Kirche wurde, machte ich einfach weiter. Weihnachten. Klick. Ostern. Klick. Pfingsten. Klick. Ich fotografierte Menschen in allen Lebenslagen. Taufe. Klick. Trauung. Klick. Trauerfeier. Klick. Ich fotografierte alle Konfirmanden und viele Senioren. Klick, klick, klick. Doch eines fehlt auf allen diesen Bildern: Ich selbst.

Das soll sich ab heute ändern. Denn ich habe mir selbst ein Smartphone geschenkt. Dieses Smartphone hat viele "Apps", also Funktionen, die ich alle noch nicht kenne. Aber eine Funktion kenne ich - die Kamera. Das Besondere daran ist: Ich kann die Perspektive per Knopfdruck umdrehen. Dann fotografiere nicht mehr andere sondern mich selbst. Ein solches Bild nennt man auf Neudeutsch ein "Selfie".

Selfies werden in der Regel mit der ausgestreckten Hand gemacht und nicht selten ins Internet gestellt. Besonders gern tun dies die Teeniestars Justin Bieber und Miley Cyrus. Aber auch der US-Präsident Barack Obama hat neulich ein Selfie gemacht – bei der Trauerfeier für Nelson Mandela. Und von Papst Franziskus gibt es sogar ein Gruppenselfie – mit einer Jugendgruppe im Petersdom. Was mich jedoch am meisten beeindruckt hat, ist das Selfie, das ein japanischer Astronaut kürzlich im Weltall aufgenommen hat. Es heißt: "Die Erde und ich".

Der Heilige Abend ist der ideale Tag für ein Selfie. Denn an diesem Tag stellt sich - wie an keinem anderen Tag im Jahr - die Frage nach mir selbst: Wer bin ich? Was habe ich erreicht? Was habe ich versäumt? Was habe ich noch vor? Dazu kommt ein Gruppenselfie: Wer sind die wichtigsten Menschen in meinem Leben? Mit wem verbringe ich den Heiligen Abend?

Ein literarisches Selfie stammt von dem Liederdichter Paul Gerhardt. Er hat sich selbst in eine Beziehung gesetzt zu dem Kind in der Krippe. Sein Selfie heißt: "Ich steh an deiner Krippen hier". Dieses Lied ist schon mehr als 350 Jahre alt. Doch es hat – wie ich finde - nichts von seiner Ausstrahlungskraft verloren. Auch dank der kongenialen Vertonung von Johann Sebastian Bach.

"Ich steh an deiner Krippen hier" enthält mehr "Ichs" als jedes andere Kirchenlied. Dieses Lied hat Dietrich Bonhoeffer getröstet, als er vor 70 Jahren im Gefängnis lag: "Ich lag in tiefster Todesnacht, du warest meine Sonne". Und immer noch tröstet – insbesondere die Strophe 3 - Menschen, die gefangen sind, äußerlich oder innerlich, die krank an Leib und Seele, die Streit haben in der Familie, die ihren Partner verloren haben, die Schuld auf sich geladen haben.

Es ist schwer, sich der eigenen Person zu stellen. Aber es ist notwendig. Zumindest am Heiligen Abend. Denn ohne Selbsterkenntnis ist kein Neuanfang möglich. Darum lade ich Sie dazu ein, am heutigen Tag Ihr Smartphone herauszuholen und Selfies zu machen. Fotografieren Sie sich selbst - mit dem Christbaum, mit der Weihnachtskrippe, mit ihrer Familie oder mit der Gemeinde. Wenn Sie wollen, können Sie mir eines dieser Selfies zuschicken.

Weihnachten ist ein christliches Hochfest. Es ist das Fest der Freude über das Christkind. Aber auch das hohe Fest der Freude an sich selbst. Paul Gerhardt schreibt in Strophe 2: "Da ich noch nicht geboren war, da bist du mir geboren und hast mich dir zu eigen gar, eh' ich dich kannt', erkoren".

Niko Natzschka

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