Wer bin ich?

Identität durch Beziehung

"Wer bin ich?". Diese Frage hat sich Dietrich Bonhoeffer im Jahr 1944 gestellt. Er war damals 38 Jahre alt und saß im Gefängnis in Berlin-Tegel. Er hätte sich auch viele andere Fragen stellen können. Zum Beispiel: "Wann werde ich aus dem Gefängnis entlassen?". "Wann ist der Krieg endlich zu Ende?". "Wann kann ich meine Verlobte Maria von Wedemeyer heiraten?". Doch alle diese Fragen stellte er sich nicht. Stattdessen stellte er sich eine Frage, die sich normalerweise Jugendliche in der Pubertät stellen: "Wer bin ich?". Er kann sich diese Frage nicht selbst beantworten. Denn es ist eine Beziehungsfrage. Die Antwort ergibt sich aus der Beziehung zu den Menschen, die ihn umgeben, also in diesem Fall seinen Gefängniswärtern. Dietrich Bonhoeffer schreibt:

"Wer bin ich? Sie sagen mir oft, / ich trete aus meiner Zelle / gelassen und heiter und fest / wie ein Gutsherr aus seinem Schloss. / Wer bin ich? Sie sagen mir oft, / ich spräche mit meinen Bewachern / frei und freundlich und klar, / als hätte ich zu gebieten. (...) / Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen? / Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß? / Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig, (...) / hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen, / dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe. (...) / Wer bin ich? Der oder jener? / Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer? / Bin ich beides zugleich? (...) / Wer ich auch bin, du kennst mich, dein bin ich, o Gott!".

Soweit Dietrich Bonhoeffer. Auch unser heutiger Predigttext (Johannes 9,35-41) stellt die Frage "Wer bin ich?". Der Pharisäer antwortet: "Ich bin ein Sehender, der erkannt hat, dass Blindheit eine Folge von Sünde ist". "Ich bin ein Wächter, der darauf achtet, dass niemand das Sabbatgebot übertritt". "Ich bin ein Gerechter, der dafür eintritt, dass alle Sünder aus dem Volk Gottes ausgeschlossen werden". Der Blindgeborene antwortet: "Ich bin ein Blinder, dem Jesus an einem Sabbat die Augen geöffnet hat". "Ich bin ein Sünder, dem Gott seine Schuld vergeben hat". "Ich bin ein Ausgestoßener, der wieder in die Volksgemeinschaft zurückkehren darf".

"Wer bin ich?". Diese Frage wird nicht nur in der Bibel gestellt. Sie stellt sich auch mir im Laufe meines Lebens immer wieder neu. Ich bin ein Mensch, ein Mann. Ich bin ein Deutscher, ein Christ. Ich bin - wie Martin Luther gesagt hat - Sünder und Gerechter zugleich. Für meine Frau bin ich der Ehemann. Für meine Eltern bin ich der Sohn. Für meine Geschwister bin ich der Bruder. Für meine Gemeinde bin ich der Pfarrer. Für meine Schüler der Lehrer. Sie alle sagen mit täglich, wer ich bin. Denn wer ich bin, kann ich mir nicht selber sagen. Ich muss die Antwort aus dem Munde eines anderen erfahren.

Und wenn diese Frage einmal beantwortet ist, dann gilt die Antwort nicht für alle Zeit. Denn die Frage aller Fragen stellt sich im Laufe eines Lebens immer wieder neu. In jeder Krise stellt sich die Frage neu: "Wer bin ich?". In einer Glaubenskrise stellt sich der Frage: "Bin ich noch ein Christ?". In einer Ehekrise stellt sich die Frage: "Bin ich noch ein guter Ehemann?". In einer Gemeindekrise stellt sich die Frage: "Bin ich noch der richtige Pfarrer für diese Gemeinde?". Solche Fragen verunsichern mich - so wie sie auch Dietrich Bonhoeffer zutiefst verunsichert haben. Aber eines tröstet mich - dass Bonhoeffer in allen Zweifeln einen Halt gefunden: "Wer ich auch bin, du kennst mich, dein bin ich, o Gott!".

Das heißt: Wer ich bin, wird nicht nur und auch nicht endgültig von meinen Mitmenschen festgelegt sondern allein von Gott. Er steckt den Lebensrahmen und sagt mir, wer ich bin. Ich bin sein Geschöpf. Von ihm geschaffen. Von ihm erlöst. Von ihm berufen zum Dienst. Er hat mir die Augen geöffnet. Er hat mir meine Schuld vergeben. Er hat mich in seine Gemeinde gestellt. Und die Gemeinde ist nicht der Ort, an dem einer den Glauben des anderen beurteilt, sondern sie ist ein Ort der Selbstreflexion. Ein Ort, an dem sich Menschen immer wieder gegenseitig die Frage stellen: "Wer bin ich?".


Niko Natzschka

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