Wähle den Mittelweg

Dädalus und Ikarus

Der Traum vom Fliegen ist so alt wie die Menschheit selbst. Nach einer antiken Sage hatte der Erfinder Dädalus für den König Minos auf Kreta ein Labyrinth gebaut. Bald darauf war Dädalus in Ungnade gefallen, und der König ließ ihn zusammen mit seinem Sohn Ikarus in das Labyrinth sperren. Dädalus nahm die Federn eines Adlers, fügte sie mit Wachs zusammen und machte daraus Flügel - ein Paar für seinen Sohn, ein Paar für sich selbst. Dann gab er seinem Sohn einen weisen Rat: "Wenn du dein Ziel erreichen willst, dann wähle immer den Mittelweg! Flieg nicht zu hoch, damit die Flügel nicht der Sonne zu nahe kommen und Feuer fangen. Flieg nicht zu tief, damit die Flügel nicht das Meer berühren und vom Wasser zu schwer werden".

Da breitete Dädalus seine Schwingen aus und flog der Sonne entgegen. Sein Sohn folgte ihm auf dem Weg in die Freiheit. Ikarus hatte solche Freude am Fliegen, dass er übermütig wurde und begann, seinen Vater zu überflügeln. Dädalus wollte seinen Sohn noch warnen - doch zu spät. Ikarus flog immer höher und kam der Sonne zu nahe. Das Wachs begann zu schmelzen. Die Flügel lösten sich auf. Und Ikarus stürzte ins Meer.
Der moderne Dädalus glaubt an Gott, aber sein Glaube artikuliert sich nicht in der Sprache der Kirche. Er geht nur selten in den Gottesdienst, aber er versucht, ein anständiger Mensch zu sein. Der moderne Ikarus hat mit seinem Vater gebrochen, weil er ihn für ungläubig hält. Ikarus geht jeden Sonntag in die Kirche. Er raucht nicht und trinkt nicht, dafür betet er dreimal am Tag. Er besucht einen Hauskreis und verkehrt nur noch mit Gleichgesinnten.

Der Abstand zwischen Vater und Sohn wird immer größer, weil der eine immer tiefer fliegt und der andere immer höher. Doch es gibt einen Raum zwischen Himmel und Erde, in dem sich Dädalus und Ikarus noch begegnen können - das ist Volkskirche. Sie ist dem einen zu fromm und dem anderen nicht heilig genug, aber sie verkörpert doch wie keine andere Institution den weisen Rat: "Wenn du dein Ziel erreichen willst, dann wähle immer den Mittelweg!".


 

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