Der Junge und der Kellner

Kündigung an Silvester

Ich weiß nicht, wie es passiert ist. Schließlich bin ich kein Kind mehr. Ich bin über vierzig Jahre alt und habe jede Menge Berufserfahrung. Aber nun hat der Silvesterabend mir die Kündigung beschert.

Zunächst war alles reibungslos verlaufen. Ich hatte das Dinner serviert, kein Glas umgeworfen, mein Trinkgeld kassiert und mich dann in mein Zimmer zurückgezogen. Ich hatte die Fliege abgelegt, das schwarze Jackett ausgezogen und das weiße Hemd ein wenig aufgeknöpft. Dann hatte ich mich auf mein Bett gesetzt, eine Flasche Bier geöffnet und den Deckel einer Terrine angehoben, die ich zuvor in der Hotelküche bestellt hatte.

In diesem Augenblick sprang die Zimmertür auf und ein etwa 8-jähriger Junge kam herein, der mir schon bei Tisch unangenehm aufgefallen war. Der verwöhnte Bengel hatte das herrliche Silvestermenü überhaupt nicht beachtet. Weder das Lachscarpaccio noch die Saltimbocca alla Romana noch das Mousse au Chocolat hatte er angerührt.

Genau dieser Bengel zeigte auf die Terrine und fragte: "Was ist das?". "Erbsensuppe", sagte ich. "Kann ich etwas davon haben?", fragte der Junge. "Sicher", sagte ich, ein wenig überrascht, und gab dem Bengel einen Teller. Er aß insgesamt drei.

"Bist du nur wegen der Erbsensuppe zu mir gekommen?", fragte ich. "Nein", sagte er, "ich habe eine Kuhle für meine Murmeln gesucht". "Eine Kuhle?", fragte ich. "Hier gibt es keine Kuhle".

Mein Chef hat mich später gefragt: "Warum haben Sie das getan?". Ich weiß es nicht. Ich habe, ohne lange nachzudenken, Werkzeug geholt, den Boden im Flur aufgestemmt, eine Kuhle gemacht und mit dem Jungen über drei Stunden Murmeln gespielt. Wie sollte ich auch ahnen, dass seine Mutter über die Kuhle stolpern und sich den Fuß brechen würde, als sie nachts um halb vier betrunken aus der Hotelbar kam? Ehrlich gesagt, so schlimm finde ich das auch gar nicht, auch nicht, dass mein Chef mich rausgeschmissen hat. Gute Kellner werden schließlich überall gesucht.


 

 

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