Der Pietismus

Der Pietismus ist die wichtigste Reformbewegung innerhalb des mitteleuropäischen Protestantismus. Der Name ist eine Verbindung aus dem lateinischen Begriff "pietas", das heißt "Frömmigkeit" oder "Pflichtbewusstsein", und der griechischen Endung "-ismos", die für "Haltung" oder "Lehre" steht. Geschichtliche Vorläufer der Pietisten sind die Mystiker des Mittelalters sowie die Täufer bzw. Schwärmer der Reformationszeit. Seine Fortsetzung findet der Pietismus in den Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts sowie in der Pfingstbewegung des 20. Jahrhunderts. Heute werden Pietisten, Erweckte und Pfingstler – trotz geschichtlicher und theologischer Unterschiede – als "Evangelikale" bezeichnet.

Der Würzburger Kaufmann Hermann Kupsch mit einer Familienbibel aus dem 18. Jahrhundert
Foto: Niko Natzschka
Die Geschichte des Pietismus beginnt in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Nach dem erlebten Trauma des 30-jährigen Krieges (1618-1648) verliert die lutherische Orthodoxie immer mehr an Gestaltungskraft. Stattdessen wächst unter den deutschen Protestanten die Sehnsucht nach einer geistlichen Neuorientierung und einer Rückbesinnung auf biblische Werte.

Wichtige Impulse kommen zu dieser Zeit aus Holland. Die "Nadere Reformatie", zu deutsch "Nähere Reformation", ist eine Bewegung innerhalb der niederländisch-reformierten Kirche. Durch den reformierten Prediger Theodor Undereyck (1653-1693), der als Pfarrer in Mülheim an der Ruhr tätig ist, breitet sich diese Reformbewegung auch in Deutschland aus. Zu seinen Schülern zählt der reformierte Theologe Joachim Neander (1650-1680), dem die evangelische Kirche mit "Lobe den Herren" (EG 317) eines ihrer wichtigsten Lieder zu verdanken hat. In Mülheim an der Ruhr wirkt später auch der radikale Pietist Gerhard Tersteegen, der Lieder wie "Gott ist gegenwärtig" (EG 165), "Nun schläfet man" (EG 480) und "Nun sich der Tag geendet" (EG 481) geschrieben hat. Seine innige, beinahe mystische Frömmigkeit spiegelt sich vor allem in dem Lied "Ich bete an die Macht der Liebe" wider, das obwohl – oder vielleicht gerade weil – es ein beliebtes Volkslied ist, immer noch auf seine Aufnahme in den Stammteil des Evangelischen Gesangbuch wartet.

Speners "Pia Desideria"

Als Gründungsurkunde des deutschen Pietismus gilt die Schrift "Pia Desideria" des lutherischen Theologen Philipp Jacob Spener (1635-1705). Der Titel dieses im Jahr 1675 in Frankfurt am Main veröffentlichten Werkes ist zugleich das Programm: "Herzliches Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren evangelischen Kirche samt einigen dahin einfältig abzweckenden christlichen Vorschlägen".

Die Pia Desideria besteht aus drei Teilen: der Diagnose, der Prognose und Therapie. In der Diagnose beklagt Spener den Mangel an wahrem, lebendigem Glauben, vor allem unter evangelischen Pfarrern, und die fehlende Glaubwürdigkeit des protestantischen Zeugnisses gegenüber Juden und Katholiken. In der Prognose beschreibt Spener seine Hoffnung auf eine Erneuerung der evangelischen Kirche, die nicht nur den Juden den Weg zu Christus zeigen, sondern auch die katholische Kirche überflüssig machen soll.

Die Therapie Speners besteht aus sechs Vorschlägen. Er plädiert für 1. eine intensivere Beschäftigung mit der Bibel, z.B. in Form von Bibelstunden, 2. eine stärkere Beteiligung von Laien an kirchlichen Veranstaltungen, 3. eine unbedingte Verpflichtung der Gläubigen zu tätiger Nächstenliebe, 4. einen liebevollen Umgang miteinander beim Austragen von Lehrkonflikten, 5. eine Durchdringung des Theologiestudiums mit persönlicher Glaubenspraxis und 6. eine erbauliche Ausrichtung der gottesdienstlichen Predigt.

Eine konkrete Gestalt bekommt Speners Vision von der Kirche zum ersten Mal in Halle an der Saale. Dort eröffnet sein wichtigster Schüler, der Theologe und Pädagoge August Hermann Francke, im Jahr 1698 ein Waisenhaus, das den Grundstein für die daraus entstehenden Franckeschen Stiftungen bildet. Dann gründet Francke – mit Unterstützung des dänischen Königs Friedrich IV. – die Dänisch-Hallesche Mission, die im Jahr 1706 - als erste protestantische Missionsgesellschaft - Missionare nach Indien aussendet. Und schließlich unterstützt Francke im Jahr 1710 den preußischen Freiherrn Carl Hildebrand von Canstein bei der Gründung der Cansteinschen Bibelanstalt, der ältesten Bibelgesellschaft der Welt.

Der Württembergische Pietismus

Der Hallische Pietismus wird in seiner Blüte nur noch übertroffen durch den Württembergischen Pietismus, dessen wichtigster Vertreter der Theologe Johann Albrecht Bengel (1687-1752) ist. Mit seiner biblizistischen Lehre und seiner drängenden Naherwartung prägt Bengel eine ganze Generation von Pfarrern. Zu seinen Schülern zählen der Theologe Friedrich Christoph Oetinger, der zahlreiche Dichter und Denker beeinflusst hat, und der Liederdichter Philipp Friedrich Hiller (1699-1769), dem die evangelische Kirche Lieder wie "Jesus Christus herrscht als König" (EG 123), "Wir warten dein, o Gottessohn" (EG 152) "Mir ist Erbarmung widerfahren" (EG 355) zu verdanken hat.

Ein radikaler Vertreter des württembergischen Pietismus ist der Bauernsohn Johann Michael Hahn, der sich – aufgrund mehrerer Visionen – zum Prediger berufen fühlt und in "Erbauungsstunden" zahlreiche Gläubige um sich schart. Aus diesen Stunden entsteht die "Hahnsche Gemeinschaft", deren Frauen noch heute lange Röcke tragen und ihre Haare zu einer "Pietistenzwiebel" hochbinden. Die "Michelianer" nehmen die Bibel wörtlich, aber sie sind paradoxerweise nicht missionarisch aktiv. Zu den Kuriositäten des Württembergischen Pietismus gehört auch, dass Bengel, Oetinger und Hahn einerseits polarisierend auf die Volkskirche eingewirkt haben und andererseits überzeugte Vertreter der Allversöhnung sind.

Die Herrnhuter Brüdergemeine

Ein weiterer wichtiger Zweig des Pietismus ist die Herrnhuter Brüdergemeine, die auf Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700-1760) zurückgeht. Die prägenden Persönlichkeiten in Zinzendorfs Jugend sind sein Taufpate Philipp Jacob Spener, sein Lehrer August Hermann Francke und seine fromme Großmutter Henriette Catharina von Gersdorff (1648-1726). Nach seinem Jurastudium in Wittenberg übernimmt Zinzendorf von seiner Großmutter die Leitung des Gutshofes bei Berthelsdorf in der Oberlausitz.

Im Jahr 1722 siedelt Zinzendorf auf diesem Gutshof Flüchtlinge aus Böhmen und Mähren an, die wegen ihres evangelischen Glaubens eine neue Heimat suchen. So entsteht im Jahr 1724 zu Füßen des benachbarten Hutberges die Siedlung Herrnhut. Die unterschiedliche Herkunft der Flüchtlinge führt schon bald zu heftigen Konflikten, die am 13. August 1727 bei einer Abendmahlsfeier von Berthelsdorf zum Ausbruch kommen.

Durch einen gemeinsamen Bußakt, an dem sich auch Zinzendorf beteiligt, entsteht an diesem Tag die Brüdergemeine, die schon bald in großer Einmütigkeit Missionare in die ganze damals bekannte Welt aussendet. Seit 1731 werden von der Brüdergemeine die Herrnhuter Losungen ausgegeben, die heute nicht nur das bekannteste Andachtsbuch der Welt, sondern auch das Erkennungszeichen fast aller Pietisten sind.

Auch Zinzendorf hat mit "Herz und Herz vereint zusammen" (EG 251), "Wir wolln uns gerne wagen" (EG 254) und "Jesu, geh voran" (EG 391) wichtige Lieder zum evangelischen Allgemeingut beigesteuert. Ansonsten wirkt er in der Reihe der pietistischen Väter jedoch eher wie ein Solitär. Völlig untypisch für den Pietismus ist, dass sich Zinzendorfs Gemeinde nicht durch eine Predigt oder eine Bibelstunde konstituiert, sondern durch eine gemeinsame Abendmahlsfeier. Untypisch ist auch der Einsatz des Losverfahrens bei der Auswahl von Bibelstellen und die Ablehnung jeder Gesetzlichkeit. So wird berichtet, dass Zinzendorf bei einer Predigtreise nach Pennsylvania von einem "Bruder" angezeigt und sogar vorübergehend verhaftet wird, weil er an einem Sonntag ein geistliches Lied aufgeschrieben hat.

Die Wirkungsgeschichte des Pietismus beschränkt sich nicht nur auf den Bereich der Kirche. Ein Beispiel für den politischen Einfluss dieser Bewegung ist die Wirksamkeit der baltischen Schriftstellerin Juliane von Krüdener (1764-1824). Inspiriert vom Herrnhuter Pietismus erlebt sie im Jahr 1804 auf ihrem Gut Kosse in Lettland eine Bekehrung und entwickelt in der Folgezeit eine prophetische Begabung. Da sie politische Ereignisse, wie z.B. die Rückkehr Napoleons I. von Elba richtig voraussagen kann, gewinnt sie Einfluss auf die Petersburger Gesellschaft, insbesondere auf den der Mystik zugeneigten Zaren Alexander I.. Nach dem Sturz Napoleons, den sie als heilsgeschichtliches Ereignis deutet, wird sie zur wichtigsten Beraterin des Zaren und vertritt ihn sogar im Jahr 1815 auf dem Wiener Kongress. Unter ihrem Einfluss schließt der orthodoxe Alexander I. noch im gleichen Jahr mit dem katholischen Kaiser Franz I. von Österreich und preußischen König Friedrich Wilhelm III. von Preußen die "Heilige Allianz". Dieses religiös motivierte Bündnis bestimmt die Machtverhältnisse in Europa für mehr als drei Jahrzehnte.

Kritik am Pietismus

Aus dem Baltikum stammt auch der pietistische Prediger Johannes Hesse (1847-1916), der zunächst als Missionar in Indien tätig ist und im Jahr 1874 nach seiner Eheschließung die Pfarrstelle im württembergischen Calw übernimmt. Dort wird auch sein Sohn Hermann Hesse (1877-1962) geboren, der aufgrund seiner strengen Erziehung später zu einem der schärfsten Kritiker des Pietismus wird. Seine leidvollen Erfahrungen in dem evangelisch-theologischen Seminar Maulbronn spiegeln sich in dem Roman "Unterm Rad" (1906) wider. In der pietistisch geprägten Anstalt Bad Boll unternimmt der 15-jährige Hesse einen Selbstmordversuch. Daraufhin wird er in die Nervenheilanstalt in Stetten im Remstal eingewiesen.

Dort verfasst er im Jahr 1892 seinen berühmten "Brief an den Vater", in dem er mit der Scheinheiligkeit und der Doppelmoral des Pietismus abrechnet. Später beschreibt Hesse die Frömmigkeit seines Vaters so: Um ein guter Christ zu sein muss man ein schlechtes Gewissen haben. Man muss sich schuldig fühlen, um sich an der Erlösung freuen zu können. Ja, man kann die ersehnte Liebe Gottes nur finden, wenn man sich selber hasst. Man kann nur groß werden, wenn man sich selber klein macht, Güte nur finden, wenn man sich selbst verurteilt. Sein bitteres Fazit lautet: "Diese Lehre hat mein Leben verdorben, und ich kehre nicht zu ihr zurück" (Gesammelte Briefe II,39).

Ein weiteres Problem des Pietismus besteht darin, dass er einerseits als Reformbewegung angetreten ist und sich andererseits nicht selten Reformen verweigert. Ausdruck dieser Erstarrung einer einstmals lebendigen Bewegung ist die "Berliner Erklärung" (1909), in der die führenden Pietisten Deutschlands erklären: "Die sogen. Pfingstbewegung ist nicht von oben, sondern von unten. Sie hat viele Erscheinungen mit dem Spiritismus gemein". Diese Erklärung führt zu einer Spaltung der Gemeinschaftsbewegung in den pietistisch geprägten Gnadauer Verband und den pfingstlich geprägten Mülheimer Verband. Erst die "Kasseler Erklärung" (1996) führt zu einer gewissen Annährung der beiden evangelikalen Lager, die inzwischen von der "Deutschen Evangelischen Allianz" und dem "Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden" vertreten werden. Mittlerweile gibt es eine projektbezogene Zusammenarbeit zwischen Pietisten und Pfingstlern, z.B. bei der Allianzgebetswoche und der Evangelisationsveranstaltung ProChrist.

Dass das Anliegen der Pfingstbewegung und der ihr nachfolgenden Geistlichen Gemeinde-Erneuerung in der Volkskirche angekommen ist, zeigt sich – wie zuvor beim Pietismus – in der Aufnahme des Liedgutes. Moderne Lieder wie "Herr, dein Name sei erhöht", "Komm, jetzt ist die Zeit, wir beten an" und "Wer bittet, dem wird gegeben" werden – insbesondere von jungen Christen - immer häufiger gesungen und machen eine baldige Neuauflage des Gesangbuchs "Silberpfeil" unausweichlich. Denn eine lebendige Gemeinde des 21. Jahrhunderts kann nicht nur Lieder aus dem 17. und 18. Jahrhundert singen.

Niko Natzschka

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