Die Entstehung des Christentums

Mit einem doppelten Paukenschlag hat Bundespräsident Christian Wulff kürzlich für Aufsehen gesorgt. Bei seiner Ansprache zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit sagte er am 3. Oktober 2010 in Bremen: "Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland". Und am 19. Oktober 2010 erklärte Christian Wulff bei der ersten Rede eines deutschen Bundespräsidenten vor der türkischen Nationalversammlung in Ankara: "Hier in der Türkei hat das Christentum eine lange Tradition. Das Christentum gehört zweifelsfrei zur Türkei. Ich freue mich, an diesem Donnerstag in Tarsus einen ökumenischen Gottesdienst mitfeiern zu dürfen".

Beide Aussagen sind sowohl in Deutschland als auch in der Türkei heftig diskutiert worden, obwohl Christian Wulff nur historische Fakten wiedergegeben hat. Der Islam gehört zu Deutschland: Denn der Anteil der Moslems an der Bevölkerung liegt zur Zeit bei 4,5 Prozent, die Tendenz ist steigend. Das Christentum gehört zur Türkei: Denn das ehemalige Kleinasien gilt als erstes Land, das den christlichen Glauben als ganzes angenommen hat, und zugleich als Heimat des ersten und wichtigsten christlichen Theologen.


Die Figur des Apostels Paulus auf dem Petersplatz in Rom
Foto: Niko Natzschka
Paulus von Tarsus und seine Briefe

Paulus wird um das Jahr 8 nach Christus in der griechisch geprägten Hafenstadt Tarsus am Mittelmeer geboren. Tarsus gehört damals zur römischen Provinz Kilikien und liegt heute im Süden der Türkei an der Grenze zu Syrien. Paulus stammt aus einer strenggläubigen jüdischen Familie, ererbt aber von seinem Vater das römische Bürgerrecht.

Als griechisch gebildeter Jude und gesetzestreuer Pharisäer verfolgt Paulus zunächst die Anhänger Jesu. Doch durch eine Erscheinung des Auferstandenen vor den Toren von Damaskus fühlt er sich plötzlich dazu berufen, vor allem Nichtjuden für das Evangelium zu gewinnen. Im Rahmen dreier Missionsreisen gründet er vor allem in der heutigen Türkei und in Griechenland eine Reihe von Gemeinden, die er durch seine Briefe weiterhin begleitet.

Im Neuen Testament stehen dreizehn Briefe, die Paulus zugeschrieben werden. Aber nur sieben Briefe werden von der modernen Forschung als "echte Paulusbriefe" anerkannt: Der Römerbrief, der 1. und 2. Korintherbrief, der Galaterbrief, der Philipperbrief der 1. Thessalonicherbrief und der Philemonbrief. Diese Briefe sind in den Jahren 50 bis 60 entstanden und enthalten neben einigen biografischen Notizen die Grundzüge der paulinischen Theologie. Sechs Briefe werden in den Jahren 70 bis 100 von Schülern des Paulus verfasst und gelten als sog. Deuteropaulinen: der Epheserbrief, der Kolosserbrief, der 2. Thessalonicherbrief, der 1. und der 2. Timotheusbrief sowie der Titusbrief. Diese Briefe unterscheiden sich in Form und Inhalt von den oben genannten, erlauben aber wichtige Rückschlüsse auf die Wirkungsgeschichte des Paulus.

Der Konflikt zwischen Paulus und Petrus

Insbesondere der Römerbrief und die beiden Korintherbriefe bieten ein umfassendes theologisches System, welches das Leben und die Lehre Jesu aufnimmt und zugleich interpretiert. Die Deutung des Paulus hat Maßstäbe gesetzt: Theologen wie Augustin von Hippo, Martin Luther und Karl Barth erleben in der Begegnung mit dem Römerbrief ihre Lebenswende. Seit der Aufklärung verstehen viele Denker – u.a. Friedrich Nietzsche und Hannah Arendt – Paulus als den eigentlichen Gründer des Christentums.

Im Gegensatz zu Jesus stellt Paulus nicht den Vater im Himmel und das unmittelbar bevorstehende Reich Gottes in den Mittelpunkt, sondern die Person des Heilsmittlers: Jesus von Nazareth ist für ihn der Christus des Glaubens. Seine zentrale Aussage lautet: Jesus Christus ist für unsere Sünde gestorben und wurde zu unserem Heil wieder auferweckt. Die Aneignung dieses Heiles erfolgt nur durch den Glauben, aber nicht durch die Befolgung des Gesetzes. Mit dieser Überzeugung hebt Paulus den Unterschied zwischen Judenchristen und Heidenchristen auf und legt zugleich den Grundstein für die Abspaltung des Christentums vom Judentum.

Die Differenz zwischen dem alten und dem neuen Glauben kristallisiert sich in dem Konflikt zwischen Paulus und Petrus, der die Heidenchristen auf das jüdische Gesetz verpflichten will. Dass dieser Konflikt heftiger gewesen ist, als von Lukas beschrieben, lässt sich nicht nur an der Schilderung des Paulus erkennen (Gal. 2,11ff.), sondern auch an der Tatsache, dass der Konzilsbeschluss (Apg. 15,29) in der frühen Kirche kaum noch Beachtung findet. Das Verhältnis zwischen Petrus und Paulus gilt seit der Kontroverse um das Gesetz als zerrüttet. Auch die Kollekte des Paulus für die verarmte Gemeinde in Jerusalem (2. Kor. 8) kann das Vertrauen der Judenchristen nicht mehr zurückgewinnen.

Die Geschichte des Christentums beginnt also nicht mit einem Konsens sondern mit einer Differenz: Aus dem verkündigenden Jesus wird der verkündigte Christus. Paulus stellt in den Mittelpunkt seiner Verkündigung das Wort vom Kreuz. Das Kreuz ist für ihn kein Symbol des Scheiterns sondern ein Zeichen der Überwindung. Diese Botschaft verteidigt er sowohl gegenüber der jüdischen Theologie als auch gegenüber der griechischen Philosophie: "Die Juden fordern Zeichen, und die Griechen fragen nach Weisheit. Wir aber predigen den gekreuzigten Christus, den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit" (1. Kor. 1,22f.).

Die Frage nach dem historischen Jesus

Alle Briefe lassen erkennen, dass Paulus ein spirituelles Christusbild vertritt und – im Gegensatz zu seinem Reisebegleiter Lukas – nur ein geringes Interesse am historischen Jesus hat. An das Lukasevangelium knüpft die historische Jesusforschung an, die den Menschen Jesus vom gottgleichen Christus zu unterscheiden sucht. Weitere Grundlagen der Jesusforschung sind: die Apostelgeschichte des Lukas, die Evangelien nach Matthäus und Markus, die wegen ihrer Ähnlichkeit mit dem Lukasevangelium Synoptiker genannt werden (von griech. Synopse, die Zusammenschau), das Johannesevangelium, dessen historischer Wert wegen seiner komplexen Theologie jedoch häufig in Frage gestellt wird, vereinzelte historische Angaben bei Paulus (z.B. 1. Korinther 15,1-11) sowie außerbiblische (z.B. 1. Clemensbrief, Paulusakten) und außerchristliche Quellen(z.B. Flavius Josephus, Plinius der Jüngere).

Der erste, der das Christusbild der Kirchen radikal in Frage stellt, ist der Hamburger Orientalist Hermann Samuel Reimarus. In seiner Privatschrift "Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes" (1735-1768) stellt Reimarus Jesus als politischen Revolutionär dar, der von seinen Anhängern posthum zu einem himmlischen Erlöser erklärt worden ist. Nach dem Tod von Reimarus veröffentlicht der Schriftsteller Gotthold Ephraim Lessing Fragmente aus der "Apologie" (1774-1778), ohne den Verfasser zu nennen. Diese Veröffentlichung führt zum sog. Fragmentenstreit zwischen Lessing und den orthodoxen Lutheranern unter der Führung des Hamburger Hauptpastors Johann Melchior Goeze.

In seiner Schrift "Das Messiasgeheimnis in den Evangelien" (1901) zeigt der Theologe William Wrede, dass nicht nur Paulus sondern auch die Evangelisten das Leben Jesu in ihrem Sinne gedeutet haben. So habe Markus Texte aufgegriffen, die Jesus nur als Wanderprediger und Wunderheiler schildern. Erst der Evangelist selbst habe aus dem Menschen Jesus einen himmlischen Erlöser gemacht. Diese Differenz spiegelt sich – laut Wrede – in dem sog. Messiasgeheimnis wider. Denn nur Markus berichtet davon, dass Jesus seinen Jüngern verboten habe, ihn vor seinem Tod als Christus zu verkündigen.

Im Jahr 1906 fasst der Theologe und spätere Mediziner Albert Schweitzer die bisherigen Ergebnisse der historischen Jesusforschung in seinem Buch "Von Reimarus zu Wrede" zusammen. Dieses Buch erscheint im Jahr 1913 in einer stark erweiterten Fassung unter dem Titel "Geschichte der Leben-Jesu-Forschung". Damit gibt Albert Schweitzer der historischen Jesusforschung rückwirkend einen neuen Namen.

Die Deutung Rudolf Bultmanns

Im Mittelpunkt der Leben-Jesu-Forschung steht die Frage, ob sich Jesus selbst für den Messias gehalten hat oder nicht. In seiner "Theologie des Neuen Testaments" (1948-1953) vertritt der Neutestamentler Rudolf Bultmann die Auffassung, dass Jesus einen anderen meint, wenn er von dem wiederkommenden Menschensohn spricht (z.B. in Mk. 13,26). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang Bultmanns Deutung des Philipperhymnus. Dieses urchristliche Lied, das Paulus in seinem Brief an die Philipper (2,6-11) aufgreift, sagt über Jesus Christus:

"Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters".

Rudolf Bultmann deutet den Philipperhymnus in dem Sinne, dass Gott den Menschen Jesus von Nazareth durch Kreuz und Auferstehung zu dem macht, den er selbst als zukünftigen erwartet hat: zum Menschensohn, zum Christus des Glaubens.

Auch der Dogmatiker Eberhard Jüngel versucht die Differenz zwischen dem historischen und dem geglaubten Jesus zu überbrücken. In seiner Doktorarbeit "Paulus und Jesus" (1961) beschreibt er die Verkündigung Jesu und die Theologie des Paulus als unterschiedliche Sprachereignisse, die darin übereinstimmen, dass sie die eschatologische (griech. letztgültige) Zuwendung Gottes zu den Menschen ankündigen.

Gleichwohl hält Jüngel an der klassischen Zuordnung fest: Nicht "Jesus und Paulus" sondern "Paulus und Jesus" lautet sein Thema. Es bleibt die Frage, ob der Glaubende Jesus nur über Paulus kennenlernen kann oder ob es daneben einen persönlichen unmittelbaren Zugang zu Jesus gibt.

Die Freiheit des Glaubens

So abenteuerlich und widersprüchlich die Deutungen moderner Theologen auch sein mögen, sie machen doch deutlich, was das Christentum dem Islam voraus hat: die Aufklärung. Die Aufklärung hat den Menschen des Okzidents eine Freiheit gebracht, die viele Menschen im Orient noch nicht kennen. Zur Freiheit des Glaubens gehört auch die Freiheit, etwas anderes zu glauben, und die Freiheit, nichts zu glauben.

Doch zurück zum Bundespräsidenten: Christian Wulff hat am 21. Oktober 2010 mit seiner Frau Bettina an einem Gottesdienst in der Pauluskirche in Tarsus teilgenommen. Diese im 12. Jahrhundert gebaute Kirche wurde im Jahr 1943 vom türkischen Staat konfisziert und zunächst in ein Lager, dann in ein Museum umgewandelt. Trotz aller Zusagen der türkischen Regierung darf das Gebäude bis heute nur ausnahmsweise als Kirche genützt werden. Darum hat Christian Wulff nach dem oben genannten Gottesdienst die volle Religionsfreiheit für alle in der Türkei lebenden Christen gefordert, die allerdings nur noch 0,2 Prozent der Bevölkerung ausmachen.

Diese Freiheit, die für Moslems in Deutschland schon lange besteht, ist eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Aufnahme in die Europäische Union. Sie ist zugleich die Grundlage eines friedlichen Zusammenlebens von Christen und Moslems – in Deutschland, in der Türkei und anderswo.

Es ist leicht, Toleranz zu fordern, solange man sich in der Minderheit befindet. Ob man wirklich tolerant ist, erweist sich erst, wenn man in der Mehrheit ist. Was Paulus an die Christen in Galatien schreibt, könnte auch für die heute dort lebenden Moslems gelten: "Zur Freiheit hat uns Christus befreit" (5,1). Darum ist Paulus nicht nur ein Apostel der Antike, sondern zugleich ein Prophet der Moderne.

Niko Natzschka

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