Die beiden Gesetzestafeln auf dem Schalldeckel der Barockkanzel der ehemaligen Kartäuserkirche in Tückelhausen
Foto: Niko Natzschka
Die Zehn Gebote

"Hört, Ihr Leut', und lasst euch sagen: / Unsre Glock' hat zehn geschlagen! / Zehn Gebote setzt Gott ein. / Gib, dass wir gehorsam sein!" Mit diesen Worten erinnert das sog. Nachtwächterlied an ein zentrales Dokument des jüdischen und zugleich des christlichen Glaubens, das sowohl in der Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen als auch im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland seinen Niederschlag gefunden hat. Der wissenschaftliche Name "Dekalog" stammt aus dem Griechischen und heißt auf deutsch "Das Zehnwort".

Nach der biblischen Überlieferung ist Mose während der Wüstenwanderung des Volkes Israel auf den Berg Sinai gestiegen und hat dort die Zehn Gebote erhalten, die Gott eigenhändig in zwei Steintafeln gemeißelt hat. Diese beiden Tafeln zerbricht Mose im Zorn, als er bei seiner Rückkehr erkennt, dass sich sein Volk von Gott abgewandt hat und stattdessen um ein Goldenes Kalb tanzt.

Nach der Zerstörung dieses Götzenbildes begibt sich Mose erneut auf den Berg Sinai, um Gott gnädig zu stimmen. Als Zeichen der Vergebung erhält er zwei neue Steintafeln, die zunächst in einem geweihten Holzkasten, der sog. Bundeslade, aufbewahrt werden und später von König Salomo in den neugebauten Tempel überführt werden.

Die Zehn Gebote werden somit zur Gründungsurkunde des ersten Staates Israel, dessen Bestand – nach Überzeugung der Propheten - von der Einhaltung dieses Gesetzes abhängt. Doch auch nach dem Zerfall des Staates und der Zerstörung des Tempels bleibt der Dekalog ein wesentlicher Bestandteil der jüdischen Identität.

Exodus und Deuteronomium

Die Zehn Gebote stehen in der hebräischen Bibel an zwei unterschiedlichen Stellen: im 2. Buch Mose, das in der Wissenschaft "Exodus" genannt wird, weil es vom "Auszug" des Volkes Israel aus Ägypten berichtet, und im 5. Buch Mose, das "Deuteronomium" oder "zweites Gesetz" genannt wird, weil es eine Wiederholung des Dekalogs und anderer Gesetzestexte enthält.
Es gibt zwei Unterschiede zwischen beiden Fassungen: Während Exodus 20,1-17 das Sabbatgebot mit der Ruhe Gottes nach der Schöpfung begründet, erinnert die Deuteronomium 5,6-21 an den Auszug aus Ägypten, der wiederum das Ruherecht der Sklaven begründet. Während der Exodus-Text noch den Nomaden ermahnt "Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus!", appelliert das Deuteronomium bereits an einen Hausbesitzer "Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau!". Beide Unterschiede lassen eine kulturelle Entwicklung von der ersten zur zweiten Fassung erkennen.

In der Einteilung und Zählung der Zehn Gebote gibt es Unterschiede zwischen Juden und Christen, aber auch zwischen den großen Konfessionen. Während die Juden die Selbstvorstellung Gottes besonders hervorheben, halten die Reformierten "Du sollst dir kein Bildnis machen" für ein eigenständiges Gebot.

Die Katholiken und Lutheraner fassen Selbstvorstellung und das Fremdgötterverbot zusammen, lassen das Bilderverbot weg und zerlegen dafür das Gebot "Du sollst nicht begehren ..." in zwei Bestandteile:

  1. Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst nicht andere Götter haben neben mir.
  2. Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht unnütz gebrauchen; denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht.
  3. Du sollst den Feiertag heiligen.
  4. Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass dir's wohlgehe und du lange lebst auf Erden.
  5. Du sollst nicht töten.
  6. Du sollst nicht ehebrechen.
  7. Du sollst nicht stehlen.
  8. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.
  9. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus.
  10. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was sein ist.

In der christlichen Kunst werden die Zehn Gebote in der Regel auf zwei Tafeln dargestellt: Die Gebote 1 bis 3 beziehen sich auf das Verhältnis des Menschen zu Gott und bilden die erste Tafel. Die Gebote 4 bis 10 beziehen sich auf das Verhältnis des Menschen zum Mitmenschen und bilden die zweite Tafel.

Nur das zweite Gebot enthält eine Strafandrohung: "... denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht". Nur das vierte Gebot enthält eine Verheißung: "... auf dass dir's wohlgehe und du lange lebest auf Erden".

Vom Alten zum Neuen Testament

Im Neuen Testament wird der Dekalog als gültige Grundlage des jüdischen Glaubens vorausgesetzt, aber an keiner Stelle in voller Länge wiedergegeben. Stattdessen werden die Zehn Gebote zusammengefasst zum "Doppelgebot der Liebe" (Lukas 10,25-28).

Ein Schriftgelehrter fragt: "Was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?" Jesus fragt zurück: "Was liest du?". Da antwortet der Schriftgelehrte: "Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben von ganzem Herzen (...) und deinen Nächsten wie dich selbst". Da sagt Jesus zu ihm: "Tu das, so wirst du leben".

An diese Begegnung hat der Evangelist Lukas zwei Geschichten angefügt: Das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter erklärt den zweiten Teil des Doppelgebots, die Erzählung von Maria und Martha den ersten.

Nur an einer Stelle zählt Jesus einzelne Gebote auf - und zwar in seiner Begegnung mit dem reichen Jüngling (Markus 10,17-27).

Der Jüngling fragt: "Was soll ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe?". Da antwortet Jesus: "Du kennst die Gebote: Du sollst nicht töten! Du sollst nicht ehebrechen! Du sollst nicht stehlen!". Da behauptet der Jüngling: "Das habe ich alles gehalten". Darauf sagt Jesus zu ihm: "Eines fehlt dir: Geh hin und verkaufe alles, was du hast ..."

Die Zehn Gebote werden von Jesus nicht aufgehoben, sondern sie werden verschärft. In seinen "Widerreden" – auf lateinisch "Antithesen" - der Bergpredigt erklärt er den hinter dem Wortlaut liegenden Sinn der Gebote: "Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde" (Matthäus 5,43f.).

Das heißt: Jesus fragt nicht nach dem Buchstaben des Gesetzes, sondern er fragt nach der Gesinnung des Menschen, der sich darauf beruft: "Wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter" (Markus 3,35).

Daran knüpft auch der Apostel Paulus an: Für ihn ist Jesus der einzige Mensch, der den Willen Gottes voll und ganz erfüllt hat. Alle anderen Menschen scheitern am Gesetz und können nur darauf vertrauen, dass Jesus in Kreuz und Auferstehung alles getan hat, was zu ihrem Heil notwendig ist.

Der Kirchenvater Augustin hält das Gesetz nicht für heilnotwendig. Er vertritt vielmehr die Überzeugung, dass ein Christ auf jede Form der Reglementierung verzichten kann, weil ihm der Glaube durch die Kraft des Heilige Geist den rechten Weg weist: "Liebe – und dann tu was du willst".

Von Luther zu Barth

Auch Martin Luther lehnt das Gesetz - nach seiner reformatorischen Entdeckung - als Heilsweg grundsätzlich ab. Stattdessen spricht er vom "dreifachen Gebrauch des Gesetzes" – auf lateinisch "triplex usus legis". Das Gesetz ist für Luther 1. ein Riegel, der die staatliche Ordnung vor dem Einbruch des Bösen schützt, 2. ein Spiegel, der dem Menschen sein sündiges Wesen vor Augen führt und 3. ein Zügel, der den Christen davor bewahrt, vom rechten Weg abzukommen.

Im Jahr 1529 stellt Luther die Zehn Gebote an den Anfang seiner Schrift "Der kleine Katechismus". Dieser Katechismus dient zunächst als Lehrgrundlage der neu entstandenen lutherischen Gemeinden. Später unterrichten Hausväter ihre Familienmitglieder und Pfarrer ihre Konfirmanden anhand dieser Schrift. Heute gehört der kleine Katechismus zu den lutherischen Bekenntnisschriften, auf die jeder Pfarrer und jede Pfarrerin bei der Ordination verpflichtet wird.

Besonders einprägsam ist die gleichförmige Frage, die nach jedem Gebot gestellt wird: "Was ist das?". Luther antwortet darauf ebenso stereotyp: "Wir sollen Gott fürchten und lieben ..." Damit erinnert Luther bei der Auslegung jedes Gebots immer wieder an das erste, das für ihn das wichtigste ist, weil es alle anderen Gebote beinhaltet.

Der Kleine Katechismus findet sich im Evangelischen Gesangbuch unter der Nummer 905. Daran schließt sich unter der Nummer 907 die "Theologische Erklärung von Barmen" an, die allerdings nicht von einem lutherischen, sondern von einem reformierten Theologen stammt.

Wie kommt diese "reformierte" Erklärung in ein lutherisches Gesangbuch? Karl Barth hat offensichtlich erkannt, dass die tradierten Bekenntnisse nicht ausreichen, um die Herausforderungen des 20. Jahrhunderts zu bewältigen.

Prüfung und Bestätigung

Mit Beginn des 20. Jahrhunderts verliert das Christentum immer mehr seinen prägenden Einfluss auf die europäische Kultur. An seine Stelle treten demokratische Staatsformen, welche die Zehn Gebote in säkularer Form aufnehmen, aber auch totalitäre Ideologien, die den Dekalog in ihrem Sinne umprägen oder gar ins Gegenteil verkehren.

Dafür ein Beispiel: Im Jahr 1890 lässt die Stadt Bremen an der Außenfassade ihres Gerichtsgebäudes zehn Mosaiken mit einer symbolischen Darstellung der Zehn Gebote anbringen. Einige Jahrzehnte später verlangen die Nationalsozialisten - wegen des jüdischen Hintergrunds - die Zerstörung dieser Bilder, bemerken aber nicht, dass kluge Bremer Bürger die Mosaiken nur hinter Steinplatten verstecken.

Im Jahr 1943 schreibt der in die USA emigrierte deutsche Schriftsteller Thomas Mann in einem Beitrag für den Sammelband "The Ten Commandments": "Die Juden haben der Welt den universalen Gott und – in den Zehn Geboten – das Grundgesetz des Menschenanstandes gegeben. (...) Fluch dem Menschen, der da aufsteht und spricht: Sie gelten nicht mehr!".

Im Juli 1958 lässt Walter Ulbricht auf dem 5. Parteitag der SED die "Zehn Gebote der sozialistischen Moral" verkünden. Diese Gebote fassen die politischen Pflichten der DDR-Bürger zusammen und werden im Jahr 1963 in das Parteiprogramm der SED aufgenommen.

Der politische Hintergrund ist der durch die Erhöhung der Arbeitsnormen ausgelöste Volksaufstand am 17. Juni 1953. Nach diesem Aufstand verschärft sich die Kirchen- und Kulturpolitik der DDR-Regierung. Im Jahr 1954 wird die Jugendweihe als Alternative zur Konfirmation eingeführt. Kinder und Jugendliche aus kirchlich geprägten Familien werden fortan im staatlichen Bildungssystem benachteiligt. Ulbrichts Gebote atmen den Geist dieser Zeit.

Dafür zwei Beispiele. Das siebte Gebot lautet: "Du sollst stets nach Verbesserung Deiner Leistung streben, sparsam sein und die sozialistische Arbeitsdisziplin festigen". Und das achte: "Du sollst Deine Kinder im Geiste des Friedens und des Sozialismus zu allseitig gebildeten, charakterfesten und körperlich gestählten Menschen erziehen".

Dieser scharfe Ton wird von Erich Honecker auf dem 9. Parteitag der SED im Jahre 1976 deutlich abgemildert. Er ersetzt Ulbrichts Gebote durch die "Pflicht, die Normen der sozialistischen Moral und Ethik einzuhalten und die gesellschaftlichen Interessen über die persönlichen zu stellen".

Ganz anders sieht die Entwicklung in der Bundesrepublik aus. Schon die Präambel des am 23. Mai 1949 ratifizierten Grundgesetzes erinnert an die "Verantwortung vor Gott und Menschen" und damit an die beiden Tafeln des Dekalogs. "Die Würde des Menschen ist unantastbar" (Art. 1 GG) korrespondiert u.a. mit dem 4. Gebot, "Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit" (Art. 2 GG) mit dem 5. Gebot, "Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung" (Art. 6 GG) mit dem 6. Gebot, usw..

Was bleibt, ist die Hoffnung, dass die Zehn Gebote im 21. Jahrhundert – auch und gerade in Deutschland - mehr geachtet werden als im 20., und die Dankbarkeit gegenüber einem reformierten Theologen, der dem deutschen Luthertum, das vom Nationalsozialismus schwer beschädigt war, sein Gesicht zurückgegeben hat. Karl Barth hat das 1. Gebot, das Martin Luther so wichtig war, in Barmen völlig neu – und zwar christologisch – formuliert: "Jesus Christus ist das eine Wort Gottes".

Niko Natzschka

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